Jetzt heul doch nicht!

„Jetzt heul doch nicht!“, hörte Elias sich sagen, und er hörte auch, wie hilflos das klang, aber was sollte man denn auch sagen, wenn so ein junges, hübsches Ding wie diese Raphaelle plötzlich in Tränen ausbrach! Die feuchten Perlen kullerten ihr nur so aus den Augen und hinterließen schwarze, nicht ganz geradlinige Striemen auf ihren sorgfältig gepuderten und mit einem Hauch Rouge versehenen Backen. Elias ertappte sich bei der Frage, ob die schwarzen Ströme vielleicht deswegen ihre Richtung änderten, weil sie das Rouge in der Backenmitte umfließen mussten…? Die mäandernden Tränenspuren hatten Raphaelles Kinn längst erreicht, als es ihm endlich in den Sinn kam, ihr ein Tempotaschentuch zu reichen, und sie nahm es mit niedergeschlagenen Augen aus seiner Hand an und tupfte wirr in ihrem Gesicht herum, wobei sie das Schwarz ihrer Augenränder nur noch weiter verkleckste. Niedlich sah das aus – die Maskara betonte das Dunkle ihrer Haare. „Was hast du denn?“, fragte er begütigend. „Nimm das doch nicht so persönlich, ich hab doch nur gesagt, dass ich zwar auch gewisse Werte habe und bestimmt kein völlig gottloser Mensch bin, aber trotzdem habe ich ehrlich keine Lust auf diese Versammlung da“ – und damit zeigte er auf den Flyer, den sie schlaff in ihrer taschentuchfreien Hand hielt: Der hatte wohl auch ein paar gesalzene Tropfen abbekommen. „Außerdem habe ich samstagabends um sechs ehrlich Besseres zu tun!“ Jetzt fing er schon an, sich zu rechtfertigen. Ihm war, als sei er, Elias Mieser, schuld an der ganzen Misere und als müsste er sich persönlich verantworten für den verklecksten Flyer, vor allem aber dafür, dass diese Raphaelle immer noch nicht aufhören konnte zu weinen. Was er eben noch süß fand, fing jetzt an, ihn zu nerven, er sah auf die Uhr und wollte weiter, schließlich hatte er noch alle möglichen Besorgungen zu machen, bevor Daniel und die anderen heute Abend zum Kochen kamen. Vorhin waren sie doch zu zweit gewesen, die jungen Damen mit ihren Flyern – wo war jetzt bloß die andere abgeblieben, ausgerechnet jetzt, wo Raphaelle dringend ein bisschen Trost gebrauchen könnte?!? Oder weinte sie um ihn? Das wäre ja dann doch wieder irgendwie süß, und zuzutrauen war es ihr, dass sie ihn für rettungslos verloren hielt und ihn im Geiste zur Hölle fahren sah, wenn er nicht zu ihrer Versammlung kam. An genau diesem Punkt war er vorhin ausgestiegen, als sie von Himmel, Hölle und Verdammung zu reden anfing – Mann, in welchem Jahrhundert lebten sie denn? Das war völlig surreal und er schaute sich blinzelnd um. Nie hätte er gedacht, dass ihm das passieren könnte, dass er irgendwelchen religiösen Traktatierern auf den Leim ging – und das am helllichten Samstagvormittag mitten in der im Moment sehr belebten Fußgängerzone! Auf einmal war es ihm peinlich, hier zu stehen und womöglich gesehen zu werden, wie er aus den Fängen dieser raffinierten kleinen Missionarin nicht mehr herauskam, aber er konnte Raphaelle doch nicht einfach so stehenlassen, solange sie so heulte. Jetzt gab sie ihm sein feuchtes Taschentuch zurück, das er mit spitzen Fingern entgegennahm – ernsthaft, was sollte er mit dem Ding? Den ruinierten Flyer drückte sie ihm auch noch in die Hand – von der Versammlung, die er bewarb, wollte er zwar nach wie vor nichts wissen, aber die junge Dame brauchte jetzt beide Hände frei, um an ihrer schicken Tasche zu nesteln. Sie zog einen kleinen runden Taschenspiegel heraus und betrachtete entsetzt die Verheerung in ihrem Gesicht. Das fehlte noch, dass sie jetzt ihre Puderdose zückte! Stattdessen steckte sie den Spiegel resignierend zurück in die Tasche, in der Unmengen von weiteren Flyern steckten, wie Elias sah, bevor die Streetworkerin den Reißverschluss energisch wieder zuzippte und Elias – oh Wunder! – von dem unliebsamen Flyer befreite. Lieber wäre er das Taschentuch losgeworden. Jetzt sah Raphaelle ihn voll an: „Es tut mir so leid. Ich bin so unfruchtbar!“, brach es verzweifelt aus ihr heraus. „Unfruchtbar?“ Er runzelte die Stirn, und schon wieder flossen die Tränen. So unfruchtbar? Ja, konnte man denn mehr oder weniger unfruchtbar sein? Das klang für ihn ähnlich absurd, wie wenn man sagte, dass eine Frau ein wenig schwanger war, so schwanger, oder sehr schwanger, und nun dies: so furchtbar unfruchtbar. Ein kleines Grinsen konnte er sich nicht verkneifen. „Raphaelle, jetzt heul doch nicht“, beschwichtigte er. „Du wirst doch wohl nicht gleich ein Kind von mir wollen, oder?“ Völlig konsterniert starrte sie ihn an. „Ich meine, wir kennen uns doch gar nicht. Und heutzutage, du weißt schon, heutzutage gibt es viele Wege, wie eine Frau zu einem Kind kommen kann…“ Doch Raphaelle, die vorhin so eloquent auf ihn eingeredet hatte und ihn dann durch ihren Gefühlsausbruch noch viel mehr in die Mangel genommen hatte als durch jedes noch so furchtbare Weltuntergangsszenario, diese Raphaelle schien jetzt ehrlich sprachlos und starrte ihn an, ohne dass er ihren Ausdruck deuten konnte. „Raphaelle!“, rief da  von weitem ihre Freundin, die flyerwedelnd auf sie zukam. „Der ältere Herr, mit dem ich eben gesprochen habe, will seine Tochter und seine drei Enkelkinder mitbringen – die leben bei ihm, seit die Tochter sich von dem Vater getrennt hat. Fünf Seelen auf einmal, darunter Kinder – ist das nicht wunderbar?“ „Wunderbar“, flüsterte Raphaelle und starrte weiter auf den Boden – da merkte die andere erst, was mit ihrer Glaubensschwester los war. „Was ist denn, Raphaelle?“ Jetzt musterte sie ihn, Elias, mit misstrauisch taxierendem Blick. „War er böse zu dir, hat er dich beleidigt? Du weißt doch, dass der Herr uns für alles, was wir um seinetwillen erdulden, vieltausendfach belohnen wird…“ Raphaelle schüttelte nur traurig den Kopf, aber die andere sah Elias immer noch vorwurfsvoll an: „Gar nichts hab ich gemacht“, brauste er auf und fragte sich im nächsten Moment selbst, warum er sich eigentlich so angegriffen fühlte. „Na, irgendwas muss doch vorgefallen sein“, gab die andere zurück. „Lass gut sein, Audrey“, hauchte Raphaelle. „Es liegt an mir, dass die Saat nicht aufgeht und ich niemanden für die Versammlung heute gewinnen konnte. Ich muss weiter an mir arbeiten, muss noch viel, viel besser werden im Dienst des Herrn… Ich bin so unfruchtbar, und das tut mir so leid!“ Elias brauchte einen Moment – dann platzte er laut heraus und lachte schallend. Raphaelle schien verwirrt. „Ich verstehe nicht, was hier so lustig sein soll“, fauchte Audrey ihn an. „Doch, das ist das absolut Komischste, was mir in letzter Zeit begegnet ist!“ – Elias kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. “Diese junge Frau hier jammert über ihre Unfruchtbarkeit und ich denke an Eizellen und sowas und versuche sie zu trösten, so gut ich kann – dabei ist das nur so eure Art, euch selbst runterzumachen, wenn jemand mit eurer Missioniererei nichts anfangen kann, und beinahe wäre ich noch in Mitleid zerschmolzen!“ Jetzt lachte er über sich selbst. „Raphaelle, du machst einen wunderbaren Job hier und ich hab mich gern mit dir unterhalten, nur bin ich leider nicht die richtige Person für sowas“ – er zeigte auf den unglückseligen Flyer. „Zum Glück rennen hier noch genug andere Leute rum, von denen Audrey bestimmt noch ein paar einfangen kann. Mit dir, Raphaelle, würde ich lieber mal einen Kaffee trinken gehen und ganz normal reden…“ Da hatte Audrey sich schon energisch bei Raphaelle untergehakt und sie zog die unselbstbewusste junge Frau keinen Widerstand duldend mit sich. Sie rührte ihn immer noch, diese Raphaelle – jetzt drehte sie sich zu ihm um und starrte ihm nach, als ob er eine Offenbarung sei. Da – tatsächlich lächelte sie ihn unsicher an. Mit jedem Schritt, der sie von ihm entfernte, sah sie weniger verheult aus. Vielleicht sollte er Daniel anrufen und fragen, ob das Kochen mit den Kumpels heute Abend nicht doch lieber bei ihm stattfinden könnte. Er komme dann ein wenig später, müsse noch zu einer Versammlung… Und vielleicht würde er sogar jemanden mitbringen.

(2017)

Im Fadenkreuz der Zeit

Mein Lehnstuhl knarrt. Mein Haar ist weiß. Vielleicht ist es auch grau und strähnig. Ich weiß das nicht – schon lange schau ich nicht mehr in den Spiegel. Meine verknorpelten Finger zittern, als sie den Schlüssel ins Schloss stecken und die alte Schatzkiste öffnen. Die hat mein Bruder mir geschreinert, als ich klein war. Da fühl und riech und seh ich meinen abgewetzten alten Teddy, Able – „he makes life bear-able“, sagte mein Vater immer. Dann war der Vater weg. Der Bär ist noch da. Darunter: Briefe. Die schrieb die Mutter an den Vater, schrieb der Vater an die Mutter, als sie sich noch liebten. Damals schrieb man Briefe. Und von jedem meiner drei ein Bild: Als Kindergartenkinder wussten sie, dass ich Windmühlen mag. Ich grabe tiefer und zieh ein altes Schulheft raus. Warum hab ich das aufgehoben? Ein einsamer Aufsatz steht da drin. Darunter eine rote Schrift, die mir vage vertraut vorkommt. Mich wundert, dass ich das lesen kann, wo mir sonst die Buchstaben vor den Augen verschwimmen: „Du versprühst hier ein wahres Gedankenfeuerwerk, hast aber leider den Faden verloren. Drei Minus.“ Einen Moment lang spür ich, wie ich beim Schreiben geglüht hab. Und dann das: Drei Minus. Den Faden hab ich schon lang verloren. Ich leb im Stift. Manchmal zieh ich ihn aus dem Ärmel meiner roten Bluse. Das soll ich bitte lassen, sagt Schwester Anna, sonst bleibt am Ende von der schönen Bluse gar nichts übrig! Egal, sage ich. Lieber eine Bluse opfern als den Faden verlieren. Drei Minus. Da hat sich jemand getäuscht: Es war besser als Drei Minus. Auch wenn da viele lose Fäden waren. Ich hab noch andere verloren. Manche haben sich an mich geknüpft, ob ich das wollte oder nicht, an andre hab ich mich von mir aus drangehängt. Gut schien es, wenn wir unsre Leben zu einem Band verwoben, das uns hielt. Da, unter dem Papier, da ist das alte Band, das Großes hoffen ließ. Wir waren jung. Wir wollten viel. Mein Leben nahm das deine in sich auf und umgekehrt, und alle losen Fäden wurden sorgfältig entwirrt und fest verknotet. Dann war das Band ein dicker, starker Strang. Jetzt zieh ich einen seidnen Faden nach dem andern raus. Mein Lehnstuhl knarrt dabei im Rhythmus meines Lebens.

Mein Sessel knarrt. Dabei ist er ganz neu – du nennst ihn Ungetüm und warst dagegen, dass ich sowas kaufe. Natürlich ist er viel zu groß für dieses Zimmer hier im Wohnheim, aber – ich fühl mich wohl in ihm. Das aus edlen Fäden gewirkte Seidenband, das du mir aus Indien mitgebracht hast, liegt bunt und kühl und angenehm in meiner Hand. Du sagst, du willst nie mehr so lange von mir weg sein. War es so lang? Es ist Zeit, sich zu binden. Mir ist es recht, wenn du geschäftlich verreist bist. Ich bin auf der Suche. Du bist etabliert. Schon lange wartest du auf mich und darauf, dass ich die Fäden, die in unser Band nicht passen, kappe. Ich kann das nicht. Doch kann ich anders, ohne dieses Kunstwerk zu zerstören? Es spricht mich an, ich habe einen ausgeprägten Sinn für alles, was ästhetisch ist. Ich fühl mich schmierig, wenn ich ungeduscht bin. Schnell dusch ich, wenn du kommst. Wir passen gut zusammen, du und ich, das sagen alle. Ich bin so alt wie du – und lange nicht so weit. Jetzt sind wir auf der Zielgeraden, sagst du, dein Chef will dich befördern und ich bin doch auch bald fertig mit meinem endlos langen Studium. Ob ich denn keine Kinder wolle? Ja, doch. Ich will so viel. Und alle sagen, so einen wie dich werd ich im Leben nicht mehr finden. Worauf ich denn noch warte? Das weiß ich nicht, doch schau ich täglich in den Spiegel und frage mich, ob ich die bin, die du da siehst. Du ziehst und zerrst an mir. Ein buntes Haarband soll ich für dich tragen. Dabei ist‘s mir am liebsten, meine Haare flattern, wohin der Wind sie weht. Auf einmal – hab ich diese Schere in der Hand. Das kunstvolle Band spreizt sich zwischen drei unberingten Fingern. Dann schneide ich es durch und atme schnell und schwer, weil nichts mehr ist, wie es war. Mein Sessel knarrt befreit.

Mein Lehnstuhl knarrt und ich fühl mich geborgen. Nach jedem Schnitt, den ich beherzt genug gesetzt hab, hat jeder Faden, der verloren schien, andre gefunden und umspielt, umworben. Nie war ich fadenscheinig, nein, ich war zuhaus in einem Netz, das sich entsponnen hat jenseits von allzu schönen Mustern. Jetzt bin ich hier mit meinen Schätzen, bin im Fadenkreuz der Zeit, endlich am Ziel. Noch einmal hör ich meinen Lehnstuhl knarren.

(2018)

In: Zeit – Anthologie – Kurzgeschichtenwettbewerb 2018 (Literareon im Herbert Utz Verlag, 2018). ISBN 978-3-8316-2099-9 – bestellbar unter https://www.literareon.de/catalog/book/42099


Natur(zu)nah

Fassungslos starrte er sie an. So mancher mochte schön finden, was sich da viel zu nah vor seinen Augen elegant ringelte, mancher mochte die klare Zeichnung ihrer Haut bewundern, aber er – er sah nur schwarz, sah eine endlose Aneinanderreihung schwarzer Kreuze, er sah: die Schlange. Gerade eben hatte Tobias sich noch vorgestellt, wie er bereits in drei Tagen mit Tonia hier stehen und sie nach dem Baden küssen würde, ihr kühler Körper warm in seinen Armen. Das war die perfekte Kulisse für einen ersten Kuss: hier auf dem Bootssteg am Torskabotten, wo er zig Schwedensommer seiner Kindheit verbracht hatte auf dem Seegrundstück der Edelmanns. Tonia und er würden Zukunftspläne schmieden und ihr Glück würde sich im Wasser spiegeln, das in der milden Abendsonne glänzte… Wie cool das doch war, dass er seine übliche Schüchternheit überwunden und Tonia einfach gefragt hatte, ob sie nach ihrer Summer School in Göteborg hierher kommen und ein paar Tage mit ihm am See verbringen wolle…? Er kenne sich hier aus. Das stimmte zwar, aber es war das erste Mal, dass er alleine hier war – seit seinem letzten Urlaub mit den Eltern vor sieben Jahren hatte es ihn nicht mehr nach Schweden gezogen. Verändert hatte sich hier nichts. Trotz der Bedenken seines Vaters hatte er es locker geschafft, das kleine Stotterboot anzuwerfen und seine Sachen von der Anlegestelle am Parkplatz hier herüber zu bringen zum Häuschen mitten im Wald und direkt am See. Nichts und niemand würde sie hier stören – nichts außer dieser Schlange, vor der er jetzt leise und langsam zurückwich. War das eine Kreuzotter? Das musste er unbedingt googeln. Er musste rausfinden, ob diese gewundene Kreatur da auf den Steinen vor dem Steg nur unangenehm oder tatsächlich gefährlich war – auf keinen Fall wollte er sich vor Tonia blamieren, die im achten Semester Zoologie studierte. Sein Handy lag oben im Häuschen – aber verdammt, er hatte ja kein Netz! Der Empfang hier im Wald war unglaublich schlecht, aber im Grunde konnte er sich ja gerade die totale Abgeschiedenheit am Torskabotten mit Tonia! auf einmal wieder vorstellen… Mit siebzehn hatte ihn dieses Abgeschnittensein von allem nur genervt, weil er es als Weltfremdheit missverstanden hatte. Das war heute anders. Seine Eltern fanden, dass er auf einmal sehr erwachsen geworden sei, seit er die letzte Prüfung seines Informatikstudiums abgelegt hatte. Seine Mutter hatte dann auch die Edelmanns bequatscht, ihn ruhig alleine hierherkommen zu lassen nach dem ganzen Stress, den Urlaub habe er sich redlich verdient und er kenne sich ja mit allem aus, auch wenn das mit der Wasserleitung vom See her immer ein wenig diffizil war… Ja, er kannte sich mit allem hier aus, außer mit Biestern wie dieser Kreuzotter da vorne! Zig Sommer lang war er in Gummistiefeln durch die Wälder hier gezogen und seine Eltern hatten ihm eingeschärft, immer kräftig aufzutreten, weil es Kreuzottern geben könne, aber nie im Leben war er leibhaftig einer begegnet. Man müsse trampeln, hieß es, weil Kreuzottern durch die Erschütterung erschräken und sich dann von sich aus davonmachten, nur barfuß auf sie treten, nein, das sei nicht ratsam – Tobias sah betroffen auf die nackten Füße in seinen Badeschlappen und wich weiter zurück, trat rückwärts hinunter vom Bootssteg auf den weichen Waldboden, wo er sich etwas sicherer fühlte, eine volle Steglänge zwischen ihm und dem Ungetier. Er trampelte wie verrückt, aber es war lächerlich, was auf dem durch Lagen von Kiefernnadeln bestens gedämpften Untergrund dabei heraus kam. Von hier aus sah er sowieso nicht, ob er die Kreuzotter in irgendeiner Weise beeindruckte, und er hatte ganz bestimmt nicht das Bedürfnis, nochmal in Badeschlappen nach ihr zu sehen. Fünf Minuten später stand er in Gummistiefeln und Trekkinghose wieder vor dem Bootssteg und war den ganzen Weg vom Häuschen herunter getrampelt, was das Zeug hielt. Vorsichtig trat er auf die Holzplanken, nur um sich im nächsten Moment wieder daran zu erinnern, dass er stampfen musste – ihm war eher nach anschleichen. Jede Schlange, die keine harmlose Blindschleiche war, war sein Feind. Verdammt, saß er da einem Mythos auf? Konnte man friedlich koexistieren mit diesem Abschaum der Schöpfung? Er hörte sein Herz heftig klopfen, als er leise an das seeseitige Ende des Bootsstegs trat und die Augen suchend über die Steine gleiten ließ. Soviel er auch scannte: die Schlange war weg. Merkwürdigerweise beunruhigte es ihn fast mehr, nicht zu wissen, wo die Schlange war, als sie auf ihrem vorigen sonnengewärmten Platz zu sehen. Wenn sie hier nicht war, konnte sie überall sein. Eigentlich hatte er sich noch eine Runde in den See werfen wollen an seinem ersten Abend hier – konnten Kreuzottern eigentlich schwimmen? Schaudernd und widerwillig trat er den Rückzug an – da hörte er mit seinem inneren Ohr, wie Tonia lachte. Kein rechter Kerl rannte davon vor etwas, das seiner Schätzung nach keine achtzig Zentimeter lang sein konnte. Was erwartete Tonia von ihm, wenn sie so lachte? Dass er sich männlich zeigte und sie beschützte, indem er die Schlange ohne großes Aufhebens beseitigte? Mann, er kannte Tonia ja überhaupt nicht! Womöglich standen diese Kreuzottern unter Naturschutz und man durfte sie gar nicht töten – mit einer eingefleischten Tierfreundin konnte er da Ärger bekommen. Andererseits konnte er sich keine junge Frau vorstellen, die ihren badplats gern mit einer giftigen Schlange teilte. Was nun? Es dämmerte schon und er war furchtbar müde nach der langen Reise. Eine halbe Stunde später fiel er ins Bett, die Außendusche hatte er gemieden und sich am Waschbecken drin nur notdürftig gewaschen. Er träumte – natürlich! – von Schlangen.

Am nächsten Morgen sah die Welt ganz anders aus. Tobias frühstückte ausgiebig auf der Veranda über dem See und stellte sich wie in seiner Kindheit vor, wie es wäre, wenn jetzt ein Elch vorbeikommen würde… Nach der Kreuzotter gestern würde ihn nichts mehr wundern! Er konnte schon wieder schmunzeln und das Wetter war so herrlich, dass er am späten Vormittag in Badehose und Gummistiefeln zum Steg runter ging und wild entschlossen war, sich von keiner Schlange der Welt vom Schwimmen abhalten zu lassen. Sie war nicht da. Dabei hatte er gar nicht mal so laut getrampelt… Die Szene von gestern kam ihm jetzt vor wie ein Spuk, den er sich auch eingebildet haben konnte. Er prustete, plantschte und schwamm, hievte sich am Steg aus dem Wasser und angelte nach seinem Handtuch auf einem überhängenden Ast – da lag die Kreuzotter wieder träge auf ihrem angestammten Stein und das Adrenalin war zurück. Er, der sonst total stressresistent an den kompliziertesten Programmen tüftelte, er drehte hier völlig am Rad und es fiel ihm beim besten Willen kein Algorithmus und kein Gesetz ein, nach dem man so eine nichtsnutzige Schlange loswerden konnte. Noch halb nass schlüpfte er in die schützenden Stiefel und wickelte das Handtuch fest um sich, bevor er sich auf einen großen Felsbrocken setzte und anfing, die Schlange zu beobachten.

Stunden später saß er immer noch da. Die Kreuzotter hatte sich kaum geregt, hatte sich nur ab und zu ein wenig geräkelt wie ein Wesen, das hier seinen Platz hatte, während er sich fühlte wie ein Eindringling. Und trotzdem – die ruinierte die ganze Idylle hier! Zum Teufel mit der Zoologie – schließlich wollte er mit Tonia keine Schlangen beobachten, sondern romantische Stunden verbringen und sehen, was sich daraus entwickelte… – ganz bestimmt wollte er dabei nicht auf eine Kreuzotter achten müssen, auf die man aus Versehen treten konnte! Immer wieder kam er zu dem Schluss, dass er das rauhäutige Scheusal eben doch um die Ecke bringen musste, bevor Tonia kam. Längst hatte er zwei faustgroße Steine in seinen Händen, die er drehte und wendete. Immer wieder musste er dann aber denken, dass er ja gar nicht wusste, wieviele Artgenossen dieser Kreuzotter noch irgendwo lauerten. Was immer er täte, er würde Tonia nie so frei und unbefangen gegenüberstehen, wie er das gestern bei seiner Ankunft im Spiegel des Wassers schon gesehen zu haben meinte. Es half nichts: Er musste Tonia sagen, was Sache war, und es wäre dann wohl besser, er hätte keine Kreuzotter erschlagen. Vielleicht wusste Tonia, was zu tun war, schließlich kannte sie sich mit solchen Viechern aus, die so gerne wohlig in der Sonne lagen. Sie kannte sich aus, und er war bedürftig und nackt – ganz dringend bedurfte er einer Lösung in einer Sache, die ihn restlos überforderte. Nein, das war kein guter Ausgangspunkt. Tonia würde durchschauen, was für ein Schwächling er war, und sich frustriert von ihm und seiner Unsicherheit abwenden. Nichts würde er ihr sagen, rein gar nichts, und wenn sie sich am Ende auf dem Steg liebten und dabei gebissen würden, dann avancierte er wenigstens vom Nerd zum tragischen Liebhaber… – so weit war er schon, dass er so einen Schwachsinn dachte. Hörst du das, du vermaledeites Biest?!? Aber die Kreuzotter ließ nicht mit sich verhandeln und sich auch sonst nicht vertreiben durch irgendeine Kraft des Geistes. Endlich stand Tobias auf und sah von der Schlange weg auf das Wasser, das sich im Wind kräuselte und in beruhigend regelmäßigen Abständen ans Ufer lappte. Er sah sich. Er sah den, der töten konnte, und er sah den, der lieber getötet würde, als auch nur einer Fliege was zuleid zu tun. Er sah Tonia, die ihn verlachte, und Tonia, die ihn verstand, seine Hand nahm und den Weg hoch führte…

Dann warf er den ersten Stein.

(2018)

In: Peter Schaden (Hrsg.), wasser.spiegel – Anthologie (Verlag Edition FZA, 2018). ISBN 978-3-903104-08-2

Diese Anthologie ist bestellbar unter: https://www.editionfza.at/index.php/edition-liberty

Création à la femme

Création á la femme

Die Frau sprach:
Lasset uns Mischmänner machen.

Sie entdeckte den Mann,
in dessen Spiegel ihr Bild
zu vollster Entfaltung kam,
und sie nahm:

Vom buckligsten Mann der Stadt die hündische Treue,
mit der er an seiner aufrechten Frau hängt,
um ihr keinen Grund zu geben, ihn zu verlassen.

Von dem Frauenhelden das großzügige Lächeln,
das er selbst noch an ein Mauerblümchen verschwendet,
aber nur, wenn keine andere es sieht.

Von dem reichen, gutaussehenden Geschäftsmann
das je-ne-sais-quoi (Solarbräune, Portemonnaie),
das alle seine Sekretärinnen von ihm träumen lässt.

Von dem geheimnisvollen Sensiblen
den nuancenreichen Tonfall,
der sich in ihrem Ohr steigert, ohne zu brechen.

Von dem Kosmetikhändler die geschmeidige Hand,
die gefällig über die ihre streicht
und die Berührung nicht mit Schweiß zerreibt.

Vom Hauptamtlichen der Telefonseelsorge
das beruhigende Wort, das Verständnis des Schwachen,
das der Weisung des Starken vorausgeht.

Von dem leidenschaftlichen Liebhaber auf der Leinwand
die Passion, die sie nicht leiden macht,
weil sie schaut, wenn sie spürt.

Aus ihrer Tiefe den Namen,
in dem das Geheimnis des Du sich am höchsten verdichtet,
bis aus der bildenden Dichte das Objekt ihres Wunsches entspringt:

ein Mann.

Sie erkennt ihn wieder.
Sie hat ihn gemischt am Pult ihrer Sehnsucht,
betrieben vom Strom des Ansehens und der Angst vor Einsamkeit.
Keine Schaltung an ihm, die ihr missfällt.

Nur atmen will er nicht.
Der Schuft.
Der Verräter
an ihrer Schöpfung.

(1992)

Das Geburtstagskind

Es freute sich. Jedes Jahr an diesem Tag wachte es auf und freute sich. Wenn das erste Morgenlicht fahl und noch viel zu schwach durch den Vorhang lugte, dann wusste es, dass es noch viel zu früh war, und es machte gehorsam noch einmal die Augen zu. Vorfreude sei die schönste Freude, hatte ihm die Schwester einmal gesagt, aber es wusste nicht so recht, was das sein sollte, „Vorfreude“. Jede Art von Freude sollte doch etwas Schönes und Behagliches sein – diese Spannung dagegen, die das Kind jetzt verspürte, war schwer zu ertragen, und deshalb wollte es lieber noch einmal zurückfallen ins traumlose Nichts. Ganz bestimmt war es zu früh, schon im Morgengrauen daran zu denken, ob Onkel Walter sich wohl daran erinnerte, dass sie sich ein Mühlespiel gewünscht hatte. Er hatte es ihr bei ihrem letzten Besuch beigebracht, dieses Spiel, und er hatte sich so gefreut über die schnellen Fortschritte der kleinen Lernbegierigen, dass er sie gefragt hatte, ob sie auch gern so ein Spiel hätte. Mit leuchtenden Augen hatte sie genickt. Jetzt leuchteten ihre Augen wieder, obwohl sie doch schlafen wollte, sie leuchteten so, dass die Lider nicht geschlossen bleiben wollten: Heute war ihr Geburtstag…! Als sie die Mutter leise aufstehen und an ihrem Zimmer vorbeigehen hörte, war sie ganz sicher, dass Onkel Walter das Mühlespiel nicht vergessen haben konnte, denn er kam doch jedes Jahr zu ihrem Geburtstag, zusammen mit Tante Ilona. Da hielt sie die verheißungsvolle Stille nicht mehr länger aus. Flink hüpfte sie aus dem Bett und sprang leichtfüßig in die Küche, wo die Mutter vor einer einsamen Tasse Kaffee saß. „Guten Morgen, Geburtstagskind“, sagte sie müde lächelnd. Geduldig ließ das Kind gratulierendes Händeschütteln über sich ergehen und ging dann ohne jede Mahnung ins Badezimmer, um sich zu waschen. In dem großen Spiegel über dem Waschbecken grüßte es ein vorsichtig verhaltenes Lächeln. Es wusste nicht, dass es wusste: die dabei entstehenden Fältchen um den Mund waren die der Mutter. Es wusste nicht, was es war, das es die Augen schließen machte und das es gerade und ernst in den Spiegel schauen ließ, als sie sich wieder öffneten. Keine Linien, keine Falten, keine Verbindung zu dem, was das Kind einmal barg. Nur ein Kindergesicht, unschuldig und blank. Es schnitt eine Grimasse, um sich von der Maske des Spiegelbildes loszureißen, und es fing an, wild und schäumend mit Wasser und Seife zu hantieren. Schließlich verstummte die plätschernde Geräuschkulisse und das Kind fühlte sich sauber und bereit für den Tag. Es lauschte in Richtung der Küche, doch alles schien still. Wo war das fröhliche Klappern, das ein Teil seiner Freude sein sollte? Auf leisen Sohlen schlich es sich durch die Wohnung und linste durch einen Türspalt ins Wohnzimmer, wo die Mutter schon gestern den kleinen Tisch aufgestellt hatte, von dem es wusste, es sollte sein Geburtstagstisch sein. Fast fürchtete es stille Leere auch dort, doch der Tisch war geschmückt mit einem bunten Tischtuch und einem großen Blumenstrauß, und im selben Moment erklangen aus der Küche bekannte Radiotöne. „Mami, Mami, ich freu‘ mich“, rief es, doch es wusste nicht, ob sie hörte.

Am Vormittag war die Küche erfüllt von anderen Düften als dem des frühen Kaffees und von träger Geschäftigkeit. Das Kind saß und schaute, wie die Mutter kochte und buk. Einen Schokoladenkuchen mit viel Guss hatte es sich gewünscht, doch die Mutter machte eine Schwarzwälder Kirchtorte. Das gehörte sich so für einen runden Geburtstag erklärte sie, und sie fügte nachdenklich hinzu: „Du bist jetzt ein großes Mädchen mit deinen zehn Jahren.“ Das Kind spürte, wie Stolz es erfüllte, und vergaß den Schokoladenkuchen: Es war alt genug, um einen runden Geburtstag zu haben und für eine Schwarzwälder Kirchtorte zu sorgen. Vielleicht war es damit fast genauso wichtig wie die fünfzigjährige Tante oder die siebzigjährige Oma. „Komm, du kannst die Schüssel auslecken“, sagte die Mutter. Das Kind sah, es war Sahne, und leckte sich schon im nächsten Moment weiße Finger. „Was ist das, warum schmeckt die Sahne so komisch“, fragte es. „Kirschschnaps“, entgegnete die Mutter. „Eigentlich nichts für dich. Aber es ist ja nicht viel, und du hast Geburtstag.“ Enttäuscht von der schnapsigen Sahne war das Kind wieder erinnert: „Und mein Schokoladenkuchen?“ Die Mutter seufzte. „Ich hoffe, Marianne kommt bald und kann helfen.“ Marianne, die Schwester. Sie war so viel älter, unvorstellbare fünfzehn Jahre älter. Schwester. Erst in der Schule hatte das Kind eine neue Bedeutung des Wortes gelernt: jemand, der mit einem spielt. Marianne war anders. Schon lange wohnte sie am anderen Ende der Stadt, in einem Hochhaus mit zwölf Stockwerken im zweiten Stock, schon seit das Kind noch zu klein war, um den entsprechenden Knopf im Aufzug zu erreichen. Manchmal war das Kind gerne dort, manchmal, wenn Helmut nicht da war, durfte es dort auf Mariannes altem Xylophon spielen. Helmut war Mariannes Mann und er mochte die Töne des Kindes nicht besonders. „Hallo, kleiner Fratz“, war sein üblicher Gruß für sie, wenn sie kam, und sie mochte ihn nicht. Fragend schaute sie ihn an, wenn er kam, dann das Xylophon. „Oh, spiel ruhig weiter“, lachte er. Zögernd wiederholte sie ihre Lieblingstöne – sie schlug auf das rote, das weiße und das schwarze Plättchen -, doch ihr Klang war plötzlich trüb geworden. Ungeduldig versuchte das Kind noch einmal, den vertrauten Wohllaut des Dreiklangs herzustellen, doch er misslang. Verstimmt legte es die Klöppel beiseite. Noch im selben Moment hob Marianne das Xylophon auf und steckte es zurück in seine verblichene Schachtel. „Sie hat schon den ganzen Nachmittag damit gespielt“, erklärte sie ihrem Mann, „es wundert mich nicht, dass sie genug davon hat.“ Das Kind wurde unruhig am Ende eines solchen Nachmittags bei der Schwester. Wenn es dann selbst für das Kinderprogramm im Fernsehen kein Interesse mehr zeigte, bot Helmut mit selbstgefälligem Lächeln auf der Stirn früher oder später an, das Kind heimzufahren zur Mutter. Und wenn es dann schließlich aus seinem Auto kletterte und er es so versorgt wusste, sagte er immer: „Besuch uns bald wieder, kleiner Fratz.“ Doch sein Lächeln stand ihm zu hoch im Gesicht, es erreichte nie die Tiefe seines Mundes, und das Kind glaubte ihm nicht.

Marianne kam erst nach dem schnellen Mittagessen, das das Kind mit der Mutter allein verzehrte. Köstlich duftend stand der fertige Schokoladenkuchen in der Küche, er sollte abkühlen. Schnuppernd trat Marianne in die Wohnung und fragte erst nach den Kuchen und dann nach der Schwester, dem Geburtstagskind. Es bekam einen großen Malblock und neue Wasserfarben für die Schule, und es freute sich, als es diese ersten Geschenke auf seinen Geburtstagstisch legte, nicht zu weit an den Rand, damit sie nicht einsam und verloren aussahen auf weiter Fläche, und doch so, dass genügend Platz blieb für alles, was es sich erhoffte. Das Mühlespiel sollte den Ehrenplatz ganz in der Mitte erhalten. Das Kind erinnerte sich: In dem Geburtstagsbilderbuch, das längst vergilbt war und das die Mutter neulich für eine kleinere Kusine eingepackt hatte, da war es immer so, dass die Glocke nie aufhörte zu läuten, nachdem das Geschenk des ersten Gastes ausgepackt war. Marianne konnte doch wohl als Gast zählen? Ob, das Leben war so anders, als es in Büchern beschrieben wurde. Warum war es so anders, warum konnte jetzt nicht die Glocke läuten. Das Kind hörte, wie sich die Mutter und die Schwester in der Küche halblaut unterhielten. „Dann sag ihm doch einfach nichts davon“, hörte sie die Mutter sagen. „Man muss so manches für sich behalten im Leben.“ Und die Schwester seufzte. Das Kind seufzte auch. Die Glocke läutete immer noch nicht.

Die alte Uhr im Wohnzimmer schlug mit dröhnenden Schlägen drei Uhr, und kaum war der letzte Schlag verhallt, da klingelte es. Das Kind unterdrückte den Impuls aufzustehen und zur Tür zu rennen, die Mutter stand schon im Flur und hatte den Türöffner gedrückt, und so blieb es gespannt sitzen. Es saß im Schneidersitz auf dem Teppich vor dem Geburtstagstisch und sah doch über den Tisch hinweg aus dem Fenster in die Wolken. Schließlich kamen Schritte und Stimmen näher, und einen Moment lang saß das Kind wie erstarrt: Sie sollten nicht kommen, sie würden die reine Erwartung zerstören, es würde nie wieder sein, was es war, ein Kind, das an seinem Geburtstag auf seinen Geburtstag wartet. Es würde Geburtstag haben. Es würde das Geburtstagskind sein müssen, das sie sehen wollten. Es war Tante Ursula, sie war immer pünktlich, und von ihr, so viel wusste das Kind, war kein Spiel zu erwarten. Es wollte ja auch nur ein Mühlespiel, und Onkel Walter war noch nicht da. Also konnte man sich einstweilen freuen über die praktischen Dinge, die Tante Ursula immer schenkte, oder zumindest schien Tante Ursula sie praktisch zu finden: einen neuen Schal im Frühling für den kommenden Winter, und einen Karton voller Seife, die nach Kamille roch und bestimmt für die nächsten fünf Jahre reichen würde. Das war dann praktisch. Man brauchte fünf Jahre lang keine Seife einzukaufen. Tante Ursula arbeitete in einem großen Supermarkt, den das Kind gut kannte. Was war es diesmal? Das Kind schaute der Tante bei der Begrüßung nicht ins Gesicht und wurde deswegen von der Mutter zurechtgewiesen. Dabei hatte es doch nur die Augen niedergeschlagen, um von den vielen guten Wünschen der Tante nicht erdrückt zu werden: Es solle immer brav sein und fleißig, und die Tante wünsche ihm, es solle ein anständiger Mensch werden… Gehorsam blickte es auf in ein Gesicht, dessen strenge Züge es keine Hilfe erwarten ließen. Es wollte lachen an seinem Geburtstag, man musste doch fröhlich sein, aber vielleicht musste man erst brav und anständig werden, bevor man lachen durfte. Strenge Menschen fühlten sich oft ausgelacht, das hatte das Kind schon gelernt. Das Geschenk war nicht eingepackt: ein rosa Übertopf für eine Zimmerpflanze, darin Süßigkeiten. Die Schwester war entzückt und ging gleich ins Kinderzimmer, um zu sehen, welche Pflanze am besten passen würde. Das Kind öffnete eine Bonbontüte. „So beherrsch dich doch“, sagte die Mutter, die den missbilligenden Blick der Tante gesehen hatte. „Es gibt doch gleich Kaffee und Kuchen, Süßes genug.“

Onkel Walter war immer noch nicht gekommen. Stattdessen kamen die beiden jüngeren Schwestern der Großmutter, der Mutter ihres Vaters, den das Kind nie gekannt hatte. Seit die Großmutter tot war, nahmen die Schwestern ihre Rollen als stellvertretende Großmütter sehr wichtig, wo das Kind doch schon keinen Vater hatte und auch keinen stellvertretenden Vater. Einen Vater konnte man nicht vertreten, das kam gar nicht in Frage, das wusste das Kind. Es erinnerte sich an düstere Winternachmittage mit grauem Schneetreiben vor dem Fenster, die es auf dem Schoß der Großmutter verbracht hatte, vor langer Zeit, und die Großmutter hatte oft gesagt, es wolle doch keinen Stiefvater, oder. Wenn es dann brav und still den Kopf schüttelte, streichelte ihm die Großmutter schützend übers Haar. Manchmal fehlte die Großmutter dem Kind. Manchmal hatte es sich aber auch gewünscht, damals, als die Großmutter noch lebte, sie würde für immer schweigen, denn immer wieder legte sie dem Kind ans Herz, es müsse jetzt besonders lieb sein zur Mutter, die doch keinen Mann mehr habe, sonst wolle die Mutter vielleicht einen neuen Mann, der besonders lieb zu ihr sei, und sie wolle doch keinen Stiefvater… Es war schwer, immer lieb zu sein zur Mutter, und auch noch besonders. Die Mutter war traurig in jener Zeit, und das Kind gab sich Mühe, doch die Mutter blieb traurig, und dann wurde das Kind manchmal wütend vor Hilflosigkeit und wusste doch, das durfte man nicht, man musste es noch und nochmal versuchen und besonders lieb sein. Die Zeit verging und die Mutter blieb traurig. Als sie einmal nicht so traurig war wie sonst, hatte sie das Kind gefragt, ob es ihm gefallen würde, einen netten Onkel zu haben, der es jeden Tag besuche. „Ich will keinen Stiefvater“, hatte das Kind geantwortet. In der folgenden Nach hörte das Kind die Mutter weinen, und es wusste, seine Antwort war wohl nicht besonders lieb gewesen, wenn die Mutter so weinen musste. Am nächsten Morgen wollte es der Mutter sagen, dass man es ja vielleicht doch versuchen konnte mit dem netten Onkel, schließlich hatte die Großmutter nichts gegen Onkel gesagt, und es sollte doch besonders lieb sein zur Mutter. Es wagte ein schüchternes „Ich hatte noch nie einen Onkel“, und es hoffte, die Mutter würde verstehen. Doch die Mutter antwortete nur mit einem kurzen „Ist schon gut“ und wandte sich schnell ab. Natürlich hatte das Kind damals nicht an Onkel Walter gedacht, aber Onkel Walter war eigentlich gar kein richtiger Onkel. Nur ein sehr entfernter Verwandter der Mutter. „Sag guten Tag zu Tante Lina und Tante Paula“, wies die Mutter das Kind an, als sie die beiden Großtanten ins Zimmer führte. Das Kind blickte von einer zur anderen und wieder zur einen. Es erinnerte sich daran, dass es früher nie gewusst hatte, welche der beiden Tanten es nun vor sich hatte, wenn die Wohnungstür unter der der Großmutter aufging und ein blitzendes Brillengesicht sie in einem nach Bohnerwachs riechenden Flur begrüßte. Nur gut, dass das Kind jetzt beide vor sich hatte und die bebrillten Gesichter vergleichen konnte, das von Tante Paula war ein wenig rundlicher, das hatte es durch lange Beobachtungen herausgefunden. Brav gab das Geburtstagskind erst der einen und dann der anderen Tante die Hand und begrüßte sie mit ihren richtigen Namen. Die beiden strahlten. Das Kind sei so viel älter und reifer geworden im letzten Jahr, sagten sie, und so wohlerzogen. Zur Belohnung bekam das Kind von jeder Tante ein Kuvert, es solle sich etwas kaufen, oder noch besser sparen. Es habe sich wirklich sehr verändert, das Kind. Die Mutter lächelte müde und warf ihrem Kind einen beinahe verschwörerischen Blick zu. Wir wissen, dass sich nie viel verändert, bedeutete der Blick. Vielleicht hätte der Blick etwas ändern können, wenn nicht so viel Resignation in ihm gewesen wäre.

Als das Gespräch am Kaffeetisch schon in vollem Gange war, war Onkel Walter immer noch nicht gekommen. Außer Marianne und Tante Ursula und Tante Lina und Tante Paula waren nur noch die alte Nachbarin und Thaddäus erschienen. Die alte Nachbarin hatte früher manchmal auf das Kind aufgepasst, wenn die Mutter weg musste und es nicht zur Großmutter bringen wollte. Die Großmutter mochte deswegen die alte Nachbarin nicht, sie vermutete immer eine Verschwörung. Dann war die alte Nachbarin zu alt geworden zum Aufpassen und das Kind auch. Nur zu seinem Geburtstag kam sie immer und brachte jedes Mal ein Paar selbstgestrickter Socken mit. Das Kind wuchs ja noch, und so konnte es ein neues Paar Socken zum Geburtstag immer gut gebrauchen. Und es war spannend, welche Farbe und welches Muster es diesmal geben würde. Die Socken waren niemals gleich, und die Nachbarin gab immer gut acht, dass das Kind die jeweils entstehenden Socken nie vor seinem Geburtstag zu sehen bekam, auch wenn seine Besuche in der Nachbarwohnung vor dem entscheidenden Tag meistens häuften. Thaddäus wollte in diese Geburtstagsgesellschaft nicht so recht passen, und doch wurde er von allen gern gesehen und wurde mit den besten Kuchenstücken verwöhnt. Es konnte es mit den Tanten. Er fragte nach ihren Beschwerden und nickte verständnisvoll, wenn von Rheuma und Arthritis die Rede war. Sie mochten ihn, auch wenn er anders war, denn er gab ihnen das Gefühl, sie seien ungeheuer achtenswert. Keiner wusste, was Thaddäus eigentlich tat, aber man fragte ihn nie. Das war erstaunlich, wenn man bedachte, dass doch alle der Überzeugung waren, man müsste etwas Anständiges tun im Leben. Nur die alte Nachbarin blieb still, wenn Thaddäus mit den alten Frauen scherzte. Das Kind bemerkte, dass er Schokoladenkuchen auch lieber mochte als Schwarzwälder Kirschtorte. Er vertrage so viel Schnaps nicht, erklärte er lachend, und dem Kind wurde er dadurch sympathisch, auch wenn er sie noch gar nicht angeschaut hatte. Thaddäus hatte auch kein Geschenk mitgebracht, aber Thaddäus brauchte auch kein Geschenk zu bringen, denn jeder wusste, dass er ein armer Student war, auch wenn ihn Onkel Walter, der sein richtiger Onkel war, unterstützte. Tante Ursula fand das sehr großzügig von Onkel Walter, auch wenn er sonst ein sehr merkwürdiger Verwandter von ihr sei. Das Kind verstand nicht, warum Tante Ursula nicht auch mit Onkel Walter verwandt war. Das Rätsel blieb ungelöst und das Urteil über Onkel Walter und Thaddäus bestehen. Thaddäus hatte Tante Ursula eine besonders gute Hühneraugensalbe empfohlen und sie schob ihm dafür noch ein Stück von der Schwarzwälder Kirschtorte hin, auch wenn er es eigentlich gar nicht wollte. Dem Kind tat Thaddäus sehr leid, als es zusah, wie er essen musste.

Die Glocke schlug wieder und das Kind wusste nicht, was. Es hatte aufgehört, die Stunden zu zählen. Es sah, wie die Mutter einen bedenklichen Blick auf die Uhr warf. Vielleicht würde Onkel Walter überhaupt nicht kommen. Der Geburtstagstisch hatte sich gefüllt, doch der Platz für das Mühlespiel blieb leer. Es gab nichts zu spielen, es gab nichts zu tun.

„Und dann spielen sie schon am frühen Morgen Mensch-ärgere-dich-nicht“, sagte Tante Lina. Das Kind horchte auf. Wovon war die Rede? Wer spielte, und schon früh am Morgen? „Wirklich, ich frage mich, wie die beiden sich die teure Wohnung leisten können, wo doch nur sie halbtags aus dem Haus geht. Siegfried sagt, sie arbeite im Krankenhaus und die beiden seien sehr nett, nun ja, es sind seine Mieter, nicht meine…“ „Aber eine Zumutung ist es doch“, sagte Tante Paula, „wie die zwei halbnackt auf dem Balkon liegen und …“ „Schschsch, das Kind, unterbrach Tante Lina.“ „Aber unverheiratet. Das ist ja heute aus der Mode, das Heiraten.“ „Schaut doch weg, wenn ihr es nicht sehen wollt“, sagte die Mutter leise. „Ich werde doch wohl noch aus dem Fenster schauen dürfen?“, brauste Tante Paula auf. „Schon gut, jedem das seine“, beschwichtigte Tante Lina. „Aber Mensch-ärgere-dich-nicht gleich nach dem Frühstück und mitten unter der Woche. Manche Leute leben eben auf Kosten anderer.“ „Vielleicht arbeiten sie ja abends“, sagte das Kind, aber niemand hörte. Niemand schien das Geburtstagskind zu sehen und zu hören, obwohl es ganz anwesend war. Es schaute sich hilfesuchend um, doch die Mutter hielt den Blick gesenkt, und die Schwester war schon wieder dabei, sich über ihre arbeitslose Schwägerin zu ereifern, die doch einfach nur nicht arbeiten wolle. Thaddäus schaute geistesabwesend aus dem Fenster. Man hatte seine Stimme nicht mehr gehört, seit das Gespräch von den gesundheitlichen Problemen des Nachbarn auf die Lebensgewohnheiten seiner Untermieter übergegangen war. Was war so schlecht an Mensch-ärgere-dich-nicht nach dem Frühstück? Vielleicht war es nicht so interessant wie Mühle. Aber warum durfte man morgens nicht spielen, wenn man nichts Besseres zu tun hatte? Die Mutter schaute morgens manchmal fern, seit sie abends bis spät in einem Waschsalon arbeitete, aber das sollte es wohl lieber für sich behalten. „Tante Ursula geht an ihrem freien Tag morgens spazieren“, sagte das Kind. Das wusste es aus den letzten Ferien. Diesmal hörten alle. Tante Ursula wurde rot. „Ich geh einkaufen“, sagte sie, „nur einkaufen. Man hat doch dies und jenes zu erledigen. Nun ja, und beim Rückweg ein kleiner Umweg durch den Park… Man muss dich doch auch mal was gönnen. Ihr Kinder wisst ja nichts von dem harten Leben, das wir früher hatten!“ Das Kind wusste nur etwas von dem fremden Mann, der immer seinen Hund ausführte, wenn Tante Ursula Enten fütterte im Park. Sie schienen sich gut zu kennen. Doch es blieb lieber still. Was wusste es schon. Und weil es ihm so gut ging, zu gut, wie die Tante manchmal bemerkte, wenn sie ihm eine Tüte Gummibärchen gekauft hatte, durfte es nichts sagen und konnte es nichts sagen. Da klingelte es. Es war Onkel Walter, der der Mutter noch unter der Tür zuflüsterte, Ilona sei am Morgen in die Klinik eingeliefert worden und es gehe ihr sehr schlecht. Dann wandte er sich mit einem mühseligen Lächeln dem Kind zu, das sich an ihn geschmiegt hatte. „Alles Gute, Geburtstagskind. Tut mir leid, dass es mir nicht gereicht hat, dir ein ordentliches Geschenk zu kaufen. Hier“, und aus Onkel Walters Geldbeutel kam ein weiterer Geldschein, den man ausgeben oder sparen konnte, „kauf dir selber was.“ Das Kind schluckte und bedankte sich mühsam. Man musste sich doch freuen an seinem Geburtstag. Aber so würde es bestimmt zu keinem Mühlespiel kommen. Und Onkel Walter war heute nicht Onkel Walter. Ilona war seine Frau, seine zweite, wie Tante Ursula ihr erzählt hatte. Dabei war die erste nicht etwa gestorben, und Tante Ursula schien das nicht richtig zu finden. Onkel Walter war heute anders, weil er sich Sorgen machte um seine Frau. Das Kind schluckte noch einmal. „Tränen?“, fragte Onkel Walter betroffen. Dann sagte er nichts mehr und hielt es nur ein paar Momente lang fest, bevor er es an der Hand nahm und zurück ins Wohnzimmer führte, wo er eine allgemeine Begrüßung in den Raum warf und das Kind dann zu Thaddäus brachte mit der Bitte, es ein wenig aufzumuntern, schließlich habe das Mädchen Geburtstag.

Thaddäus hatte versucht, das Kind am großen Tisch in ein kleines Gespräch zu verwickeln, aber das ging nicht, weil es immer nur zu hören schien, was Tante Ursula und Tante Lina und Tante Paula zu sagen hatten. Ob sie nicht ein Kind wolle, hatten sie Marianne gefragt, und Marianne hatte die Mutter verzweifelt angeschaut. Die Mutter hatte nur still den Kopf geschüttelt. Jetzt war das Kind mit Thaddäus im Kinderzimmer. „Komm, zeig mir deine Puppen, Geburtstagskind“, sagte er in einem Tonfall, der ein wenig zu aufmunternd klang. „Ich bin kein Kind,“ brach es aus dem Kind heraus, „und ich spiele nicht mehr mit Puppen. Ich bin schon groß!“ Thaddäus lachte und wurde gleich wieder ernst, als er sah, dass das Kind wirklich wütend war. „Schon gut. Was bist du dann, wenn du groß bist? Kindergärtnerin?“ Das Kind war verblüfft. „Nein“, sagte es. „Was dann? Lass mich nachdenken, wie siehst du denn aus. „Ja, dass ich darauf nicht gleich gekommen bin, du musst Balletttänzerin sein!“ „Nein“, lachte das Kind. „Hm“, meinte Thaddäus. „Das ist ein schwieriger Fall. Hm.“ Jetzt hatte das Kind Feuer gefangen und hängte sich an seinen Arm. „Du musst weiterraten, rate weiter, was ich bin!“ „Friseuse.“ „Nein.“ „Fallschirmspringerin.“ „Nein!“ „Finanzbeamtin.“ „Nein!!“ „Feuerwehrfrau.“ „Nein!!!“ Das Kind lachte und lachte. Schließlich lachte Thaddäus auch. „Ich weiß wirklich nicht, was du werden willst, Claudia. Verrätst du’s mir?“ „Krankenschwester“, sagte das zehnjährige Mädchen, das Claudia hieß. „Oh nein“, sagte Thaddäus, „das ist doch langweilig, sich immer nur um anderer Leute Wehwehchen zu kümmern. Krankenschwester willst du also werden. Ich werde Arzt, weißt du das?“ „Ist das auch langweilig?“ „Nein“, sagte Thaddäus, „kluges Mädchen.“ Er schaute sie nachdenklich an. „Du kannst mich Taddy nennen. Alle meine Freunde nennen mich so.“ „Das klingt wie Teddy!“, lachte Claudia und hüpfte. Ihre Stirn war feucht und heiß, sie glühte. Endlich war ihr Geburtstag. „Taddy, nicht Teddy“, entgegnete Thaddäus und nahm einen schwarzen abgegriffenen Teddybären von Claudias Bett auf den Arm. „Und wie heißt der?“ Da war es vorbei mit der Glut. „Er hat keinen Namen“, sagte das Mädchen leise. „Er hat meinem Vater gehört und ich weiß nicht, wie er heißt. Aber ich wollte ihm auch keinen neuen Namen geben. Man kann doch nicht zwei Namen haben. Du kannst Teddy zu ihm, das ist kein richtiger Name.“ „Kein richtiger Name?“, fragte Thaddäus mit gespielter Entrüstung. „Taddy und Teddy – das sind doch sehr schöne Namen!“ Aber jetzt lachte das Kind nicht mehr. Es nahm ihm den Teddy ab und starrte in seine großen schwarzen Augen. Seine Pupillen weiteten sich, es schien zu schwanken. Thaddäus konnte das Kind gerade noch auffangen, bevor es in der Schwärze versank, und es schluchzte n seinen Armen. „Claudia, wein doch nicht“, bat er und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Da wurde sie still. Mit großen Augen schaute sie ihn an, als er weiterredete.

Taddy war gegangen und das Kind saß immer noch wie benommen vor dem Spielplan und den Figuren, die anzeigten, dass er es war, der sich ärgern musste. Still lachte es vor sich hin, als es daran dachte, wie er sich bei jedem Rauswurf die Haare gerauft hatte, um es zum Lachen zu bringen, und sie hatte gelacht und gerufen: „Du darfst dich nicht ärgern. Nein, du darfst dich nicht ärgern!“ Da kam die Mutter ins Zimmer. Das Kind erschrak und räumte hastig das Spiel in seine Schachtel. Seine Hände flatterten und sein Herz zitterte. „Wo ist Thaddäus?“, fragte die Mutter. „Er hätte sich ja wenigstens verabschieden und ein bisschen Kuchen mitnehmen können, aber er hat es ja immer eilig. Komm, die Tanten haben nach dir gefragt.“

„Wo warst du denn?“, fragte Tante Paula. „Früher durften Kinder nicht einfach so vom Tisch aufstehen“, fügte Tante Lina hinzu. Früher, was war früher. Die Mutter hatte ein Bild von früher, ein Bild von einem kleinen Mädchen auf dem Schoß ihres Großvaters. Das war Tante Ursula. Aber das Kind hatte keinen Vater. Es konnte nicht sein wie früher. Das Kind hatte nur seinen Teddy. „Taddy hat mit mir gespielt“, sagte Claudia. „Thaddäus? Was habt ihr denn gespielt?“, fragte Tante Ursula, doch das Kind schwieg. „Du willst es mir nicht sagen? Nun gut.“ Der steife Zug um ihren Mund verstärkte sich. „Was habt ihr denn gespielt“, fragte die Mutter noch einmal, dabei wusste sie es doch. „Nichts“, sagte das Kind, warum sagte es das, und warum sagte es nicht einfach, es hätte sich zwar ein Mühlespiel gewünscht, doch Mensch-ärgere-dich-nicht sei eigentlich viel schöner. Onkel Walter unterhielt sich am anderen Ende des Tisches mit der alten Nachbarin.

Die Tanten sagten, sie müssten gehen. Als sie sich verabschiedeten, mied das Kind ihren Blick. Es blieb sitzen. Es begleitete niemanden zur Tür. Es war nicht mehr Kind genug, um sich falsche Freude ins Gesicht zu schreiben. Es war undankbar. Es war allein. Sie hatten was gegen Mensch-ärgere-dich-nicht, und Taddy war gegangen. Das Kind versank in Abwesenheit. Als es wieder zu sich kam, waren auch die Schwester und die alte Nachbarin gegangen. Onkel Walter unterhielt sich leise mit der Mutter. Dann stand er auf, strich dem Kind übers Haar und fragte, ob es ein schöner Geburtstag gewesen sei. „Ja“, sagte es tonlos. Onkel Walter schaute die Mutter fragend an, doch die zuckte nur mit den Achseln. „Ich muss gehen“, sagte Onkel Walter. „Tante Ilona wartet. Doch ich besuche dich bald wieder.“ Das Kind sagte nichts. Es würde nicht mehr warten. Und doch weinte es wieder, als es Onkel Walter unten auf der Straße davongehen sah. Die Mutter sah es nicht, sie war in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt. Sie brauche keine Hilfe, hatte sie gesagt, das Kind solle an seinem Geburtstagabend nicht helfen müssen, es müsse ja morgen wieder in die Schule. Sie wollte wohl besonders lieb sein zu ihrem Kind an seinem Geburtstag. Das musste man, auch wenn heute alles anders war als früher.

Die Wohnung war still und dunkel geworden. Die Mutter hängte das feuchte Geschirrtuch an den Haken und trat in das Geburtstagszimmer und knipste das Licht an. Der Geburtstagstisch strahlte ihr entgegen. Es war auch ein Ring mit Kerzen darauf, der zum ersten Mal im Leben des Kindes ganz gefüllt war, und sie fühle sich zurückversetzt in eine Zeit, in der es noch Wunder gab und Staunen. Sie hatten ja noch gar keine Kerzen angezündet an diesem Geburtstag ihres Kindes, das war es, was fehlte. Doch sie könnten noch glücklich sein jetzt, wo das Geschirr gespült war. Die Mutter und suchte und fand Streichhölzer, die sie kaum mehr benutzt hatte, seit sie einen Elektroherd hatte. Erst als sie wieder vor dem Geburtstagstisch stand, fiel ihr auf, dass ihr freudiges Rufen nach ihrem Kind unerwidert geblieben war. „Claudia!“, rief sie noch einmal, und dann leise, fragend, mit sinkender Hand: „Claudia?“ Sekundenlang wagte sie sich kaum zu bewegen. Dann gab sie sich einen Ruck und ging von Zimmer zu Zimmer und suchte nach ihrem verlorenen Kind. Das Kind war im Kinderzimmer, umgezogen, nach Seife riechend, im Bett und starrte an die Wand. Es sagte nichts. Es freute sich nicht. Es machte keinen Unterschied, ob es die Augen offen oder geschlossen hatte, es sah immer nur, was in ihm war. Freude war Schuld, aber darüber sprach man nicht. Sie sprachen immer nur über das, was früher war, über eine Welt, aus der das Kind ausgeschlossen war. Es war verbannt in die Leere der Gegenwart, ohne Leiden, ohne Freude, ausgestattet nur mit der schrecklichen Schuld, kein richtiges Geburtstagskind zu sein. Man musste sich doch freuen. Aber man konnte nicht zurück. Die Mutter wollte das Kind zu sich drehen, aber sie hatte Angst vor der Trostlosigkeit in seinen Augen. Sie sah sich selbst. Sie sah das Kind, von dem man sagte, es habe weder Ehrgeiz noch Tatkraft. Nie tue es etwas aus eigenem Antrieb. Man meine es ja nur gut mit ihm, doch es sei verstockt, und nie sehe man es lachen. Dabei gehe es ihm doch so gut. Das Alleinsein war zu schwer, um getragen zu werden. Die Mutter schmiegte sich an das Kind und weinte leise. Welchen Widerschein hätte das Kind auch geben können, wenn das Licht nur ein schlechter Schein war. Wann begreifen die Menschen, dass das Andere ein Abglanz ihrer selbst ist.

Die Tränen der Mutter waren kalt getrocknet. Das Kind drehte sich langsam um. Mühlespiel und Marianne und Schwarzwälder Kirschtorte und Schokoladenkuchen und Tanten und Thaddäus waren unwirklich geworden. Es sah sich selbst. „Mami“, sagte es, „ich bin kein Geburtstagskind.“

(1991)