Jetzt heul doch nicht!

„Jetzt heul doch nicht!“, hörte Elias sich sagen, und er hörte auch, wie hilflos das klang, aber was sollte man denn auch sagen, wenn so ein junges, hübsches Ding wie diese Raphaelle plötzlich in Tränen ausbrach! Die feuchten Perlen kullerten ihr nur so aus den Augen und hinterließen schwarze, nicht ganz geradlinige Striemen auf ihren sorgfältig gepuderten und mit einem Hauch Rouge versehenen Backen. Elias ertappte sich bei der Frage, ob die schwarzen Ströme vielleicht deswegen ihre Richtung änderten, weil sie das Rouge in der Backenmitte umfließen mussten…? Die mäandernden Tränenspuren hatten Raphaelles Kinn längst erreicht, als es ihm endlich in den Sinn kam, ihr ein Tempotaschentuch zu reichen, und sie nahm es mit niedergeschlagenen Augen aus seiner Hand an und tupfte wirr in ihrem Gesicht herum, wobei sie das Schwarz ihrer Augenränder nur noch weiter verkleckste. Niedlich sah das aus – die Maskara betonte das Dunkle ihrer Haare. „Was hast du denn?“, fragte er begütigend. „Nimm das doch nicht so persönlich, ich hab doch nur gesagt, dass ich zwar auch gewisse Werte habe und bestimmt kein völlig gottloser Mensch bin, aber trotzdem habe ich ehrlich keine Lust auf diese Versammlung da“ – und damit zeigte er auf den Flyer, den sie schlaff in ihrer taschentuchfreien Hand hielt: Der hatte wohl auch ein paar gesalzene Tropfen abbekommen. „Außerdem habe ich samstagabends um sechs ehrlich Besseres zu tun!“ Jetzt fing er schon an, sich zu rechtfertigen. Ihm war, als sei er, Elias Mieser, schuld an der ganzen Misere und als müsste er sich persönlich verantworten für den verklecksten Flyer, vor allem aber dafür, dass diese Raphaelle immer noch nicht aufhören konnte zu weinen. Was er eben noch süß fand, fing jetzt an, ihn zu nerven, er sah auf die Uhr und wollte weiter, schließlich hatte er noch alle möglichen Besorgungen zu machen, bevor Daniel und die anderen heute Abend zum Kochen kamen. Vorhin waren sie doch zu zweit gewesen, die jungen Damen mit ihren Flyern – wo war jetzt bloß die andere abgeblieben, ausgerechnet jetzt, wo Raphaelle dringend ein bisschen Trost gebrauchen könnte?!? Oder weinte sie um ihn? Das wäre ja dann doch wieder irgendwie süß, und zuzutrauen war es ihr, dass sie ihn für rettungslos verloren hielt und ihn im Geiste zur Hölle fahren sah, wenn er nicht zu ihrer Versammlung kam. An genau diesem Punkt war er vorhin ausgestiegen, als sie von Himmel, Hölle und Verdammung zu reden anfing – Mann, in welchem Jahrhundert lebten sie denn? Das war völlig surreal und er schaute sich blinzelnd um. Nie hätte er gedacht, dass ihm das passieren könnte, dass er irgendwelchen religiösen Traktatierern auf den Leim ging – und das am helllichten Samstagvormittag mitten in der im Moment sehr belebten Fußgängerzone! Auf einmal war es ihm peinlich, hier zu stehen und womöglich gesehen zu werden, wie er aus den Fängen dieser raffinierten kleinen Missionarin nicht mehr herauskam, aber er konnte Raphaelle doch nicht einfach so stehenlassen, solange sie so heulte. Jetzt gab sie ihm sein feuchtes Taschentuch zurück, das er mit spitzen Fingern entgegennahm – ernsthaft, was sollte er mit dem Ding? Den ruinierten Flyer drückte sie ihm auch noch in die Hand – von der Versammlung, die er bewarb, wollte er zwar nach wie vor nichts wissen, aber die junge Dame brauchte jetzt beide Hände frei, um an ihrer schicken Tasche zu nesteln. Sie zog einen kleinen runden Taschenspiegel heraus und betrachtete entsetzt die Verheerung in ihrem Gesicht. Das fehlte noch, dass sie jetzt ihre Puderdose zückte! Stattdessen steckte sie den Spiegel resignierend zurück in die Tasche, in der Unmengen von weiteren Flyern steckten, wie Elias sah, bevor die Streetworkerin den Reißverschluss energisch wieder zuzippte und Elias – oh Wunder! – von dem unliebsamen Flyer befreite. Lieber wäre er das Taschentuch losgeworden. Jetzt sah Raphaelle ihn voll an: „Es tut mir so leid. Ich bin so unfruchtbar!“, brach es verzweifelt aus ihr heraus. „Unfruchtbar?“ Er runzelte die Stirn, und schon wieder flossen die Tränen. So unfruchtbar? Ja, konnte man denn mehr oder weniger unfruchtbar sein? Das klang für ihn ähnlich absurd, wie wenn man sagte, dass eine Frau ein wenig schwanger war, so schwanger, oder sehr schwanger, und nun dies: so furchtbar unfruchtbar. Ein kleines Grinsen konnte er sich nicht verkneifen. „Raphaelle, jetzt heul doch nicht“, beschwichtigte er. „Du wirst doch wohl nicht gleich ein Kind von mir wollen, oder?“ Völlig konsterniert starrte sie ihn an. „Ich meine, wir kennen uns doch gar nicht. Und heutzutage, du weißt schon, heutzutage gibt es viele Wege, wie eine Frau zu einem Kind kommen kann…“ Doch Raphaelle, die vorhin so eloquent auf ihn eingeredet hatte und ihn dann durch ihren Gefühlsausbruch noch viel mehr in die Mangel genommen hatte als durch jedes noch so furchtbare Weltuntergangsszenario, diese Raphaelle schien jetzt ehrlich sprachlos und starrte ihn an, ohne dass er ihren Ausdruck deuten konnte. „Raphaelle!“, rief da  von weitem ihre Freundin, die flyerwedelnd auf sie zukam. „Der ältere Herr, mit dem ich eben gesprochen habe, will seine Tochter und seine drei Enkelkinder mitbringen – die leben bei ihm, seit die Tochter sich von dem Vater getrennt hat. Fünf Seelen auf einmal, darunter Kinder – ist das nicht wunderbar?“ „Wunderbar“, flüsterte Raphaelle und starrte weiter auf den Boden – da merkte die andere erst, was mit ihrer Glaubensschwester los war. „Was ist denn, Raphaelle?“ Jetzt musterte sie ihn, Elias, mit misstrauisch taxierendem Blick. „War er böse zu dir, hat er dich beleidigt? Du weißt doch, dass der Herr uns für alles, was wir um seinetwillen erdulden, vieltausendfach belohnen wird…“ Raphaelle schüttelte nur traurig den Kopf, aber die andere sah Elias immer noch vorwurfsvoll an: „Gar nichts hab ich gemacht“, brauste er auf und fragte sich im nächsten Moment selbst, warum er sich eigentlich so angegriffen fühlte. „Na, irgendwas muss doch vorgefallen sein“, gab die andere zurück. „Lass gut sein, Audrey“, hauchte Raphaelle. „Es liegt an mir, dass die Saat nicht aufgeht und ich niemanden für die Versammlung heute gewinnen konnte. Ich muss weiter an mir arbeiten, muss noch viel, viel besser werden im Dienst des Herrn… Ich bin so unfruchtbar, und das tut mir so leid!“ Elias brauchte einen Moment – dann platzte er laut heraus und lachte schallend. Raphaelle schien verwirrt. „Ich verstehe nicht, was hier so lustig sein soll“, fauchte Audrey ihn an. „Doch, das ist das absolut Komischste, was mir in letzter Zeit begegnet ist!“ – Elias kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. “Diese junge Frau hier jammert über ihre Unfruchtbarkeit und ich denke an Eizellen und sowas und versuche sie zu trösten, so gut ich kann – dabei ist das nur so eure Art, euch selbst runterzumachen, wenn jemand mit eurer Missioniererei nichts anfangen kann, und beinahe wäre ich noch in Mitleid zerschmolzen!“ Jetzt lachte er über sich selbst. „Raphaelle, du machst einen wunderbaren Job hier und ich hab mich gern mit dir unterhalten, nur bin ich leider nicht die richtige Person für sowas“ – er zeigte auf den unglückseligen Flyer. „Zum Glück rennen hier noch genug andere Leute rum, von denen Audrey bestimmt noch ein paar einfangen kann. Mit dir, Raphaelle, würde ich lieber mal einen Kaffee trinken gehen und ganz normal reden…“ Da hatte Audrey sich schon energisch bei Raphaelle untergehakt und sie zog die unselbstbewusste junge Frau keinen Widerstand duldend mit sich. Sie rührte ihn immer noch, diese Raphaelle – jetzt drehte sie sich zu ihm um und starrte ihm nach, als ob er eine Offenbarung sei. Da – tatsächlich lächelte sie ihn unsicher an. Mit jedem Schritt, der sie von ihm entfernte, sah sie weniger verheult aus. Vielleicht sollte er Daniel anrufen und fragen, ob das Kochen mit den Kumpels heute Abend nicht doch lieber bei ihm stattfinden könnte. Er komme dann ein wenig später, müsse noch zu einer Versammlung… Und vielleicht würde er sogar jemanden mitbringen.

(2017)